Das Gericht als Handlanger des Kapitals

sit. Kurz vor Weihnachten, während in den Chefetagen die Champagner-Cüpli klirren, erfahren 17’000 Menschen in der Stadt Zürich, dass sie weiterhin am Existenzminimum leben müssen. Denn das Verwaltungsgericht hat eine Beschwerde gegen die Einführung des Mindestlohns gutgeheissen. Das ist Klassenkampf von oben.

«Ende November haben die wirtschaftsliberalen Profiteur:innen wieder einmal gezeigt, was sie von unserer Demokratie halten: Nichts!», sagt eine Aktivist:in des Feministischen Streikkollektivs Zürich in ihrer Rede vor dem Zürcher Verwaltungsgericht an der Kundgebung vom 6.Dezember. Sie nennt gleich die Fakten: «Im Juni 2023 haben 69 Prozent der Stadtzürcher:innen und 65 Prozent der Winterthurer:innen Ja gesagt zu einer würdevollen und gerechten Entlöhnung. Und was macht der Gewerbeverband? Er zieht vor Gericht und lässt einen demokratischen Entscheid mit Schlaumeiereien wegwischen.» Diesbezüglich hält dann auch Björn Resener, Sprecher des Komitees «Ein Lohn zum Leben» und Sekretär des Gewerkschaftsbunds Zürich (GBKZ), in seinem Redebeitrag fest: «Den Arbeitgebern liegt die Demokratie nur so lange am Herzen, bis die Mehrheit ihren Profitinteressen widerspricht. Am Zürcher Verwaltungsgericht haben sie nun politische Weggefährten gefunden, die ihnen für ihre juristischen Tricksereien die Hand gereicht haben.» Kurzfristig zur Kundgebung aufgerufen hatte das Feministische Streikkollektiv. So finden sich am Abend des Nikolaus-Tages rund 50 Aktivist:innen vor dem Verwaltungsgericht – darunter einige Genoss:innen der PdA Zürich mit ihren roten Fahnen.

Ein Lohn zum Leben
In einer der reichsten und teuersten Städte der Welt gib es Menschen, die von ihrem Lohn nicht leben können. Vier von fünf Beschäftigten in Wäschereien, jede zweite Beschäftigte in der Gebäudereinigung sowie Beschäftigte in Gastronomie, Hotellerie, Detailhandel, Kurierdiensten verdienen in Zürich weniger als 4000 Franken im Monat bei einer Vollzeitstelle. Oder in anderen Worten gesagt: 17000 Arbeiter:innen krampfen für weniger als 23 Franken pro Stunde. «Wie soll sich jemand mit diesem Lohn eine Wohnung in der Stadt Zürich leisten können?», fragt Kollege Resener zurecht. Zweidrittel der Betroffenen sind Frauen. «Kein Wunder, die Arbeitsmarkt-Statistik ist deutlich: je tiefer der Lohn, desto höher der Frauenanteil», ruft Resener in Erinnerung. Und er fügt hinzu: «Mangelnde Wertschätzung für vermeintliche, typische Frauenberufe spiegelt sich eben auch im Lohn.»
Der Rest ist auch bekannt, deswegen aber nicht weniger wichtig: Im Sommer 2020 lancierte der GBKZ in den Städten Zürich und Winterthur eine Mindestlohn-Initiative. Gefordert wurden 23.90 Franken pro Stunde in Zürich und 23 Franken in Winterthur. Der GBKZ stützte sich dabei auf Artikel 111 der Kantonsverfassung. «Dort steht es schwarz auf weiss: Kanton und Gemeinden sind gemeinsam zuständig, soziale Not und Armut zu bekämpfen», erläutert die Aktivistin des Feministischen Streikkomitees an der Kundgebung. Zudem hatten vor der Lancierung der Initiative der GBKZ sowie die beiden Städte Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Beide stehen diametral zum Beschluss des Verwaltungsgerichts. Heisst also, dass laut den beiden unabhängigen Rechtsgutachten der Einführung eines Mindestlohns in Zürich und Winterthur juristisch nichts im Wege steht. Im Juni 2023 stimmten die Stimmberechtigten Zürichs und Winterthurs mit grossem Mehr dem Mindestlohn zu. Ein grosser Sieg für die Gewerkschaften.

Interessenkonflikt
Doch die sogenannten Arbeitgeber:innen, also die Käufer:innen der Ware Arbeitskraft, wollten die Schlappe nicht auf sich sitzen lassen. Sie gelangten ans Bezirksgericht, fielen dort aber auf die Nase. So zogen sie das Urteil weiter an die höhere Instanz und fanden im Zürcher Verwaltungsgericht ihren juristischen Handlanger. Das fünfköpfige Gremium stimmte mit 3 zu 2 Stimmen der Einsprache zu. Die zwei Gegenstimmen kamen von den beiden Richter:innen, die nicht von den bürgerlichen Parteien ins Amt gewählt worden sind. Den Vorsitz hatte Mitte-Nationalrätin Nicole Barandun. Sie ist Präsidentin des Gewerbeverbands der Stadt Zu?rich (!) und Vizepräsidentin des KMU- und Gewerbeverbands des Kantons Zürich – was doch arg an der Grenze des Interessenkonflikts ist. Oder wie nennt es sich sonst, wenn eine Richterin über eine Beschwerde ihrer Kolleg:innen zu urteilen hat. Barandun arbeitet als Rechtsanwältin im Familienbetrieb Barandun Legal&Tax AG, die gemäss ihrer Website in Zürich und Zug «Steuern optimiert». Überrascht das Urteil des Zürcher Verwaltungsgerichts wirklich noch?

«Total verlogen»
Das Gericht sei nicht für «schlechte Löhne», wolle lediglich «einen Flickenteppich» verhindern, war der zynische Kommentar der Mehrheit der Richter:innen. Das tatsächliche «Flickwerk» sei eine Wirtschaft, die wie «ein löchriger Teppich ist, durch dessen Risse täglich Menschen ins soziale Elend fallen», bringt die Aktivist:in des Streikkomitees die Sache richtig auf den Punkt. Björn Resener doppelt nach: «Die Argumentation des Gerichts ist schon deshalb total verlogen, weil die Arbeitgeberverbände mithilfe ihrer Lobbyparteien im National- und Ständerat die kantonalen Mindestlöhne angreifen.» Ein wichtiger Hinweis, denn die Motion des Ständerats Erich Ettlin, auch er von der Partei Die Mitte, hat in beiden Parlamentskammern eine Mehrheit erhalten. Entsprechend musste der Bundesrat einen Gesetzesentwurf vorlegen. Dieser sieht nun vor, dass in Gesamtarbeitsverträgen «Bestimmungen über Mindestlöhne allgemeinverbindlich erklärt werden können, auch wenn sie zwingendem kantonalem Recht widersprechen». Gleichzeitig fordert die Regierung das Parlament, die Vorlage nicht anzunehmen. Denn der Bundesrat meint, dass sie «gegen mehrere Grundprinzipien der Schweizer Rechtsordnung verstösst». Eine Frage drängt sich auf: Warum wird die Motion nicht einfach gekübelt, wenn sie gegen mehrere Grundprinzipien der geltenden Rechtsordnung verstösst?

Der Kampf geht weiter
Zurück zur Kundgebung in Zürich. «Lasst uns die Heuchelei beim Namen nennen», sagt die Aktivist:in des Feministischen Streikkollektivs. Nach den Zustimmungsrufen der Anwesenden zählt sie auf: «Wenn der Gewerbeverband ‹zu viel Kontrollen› beklagt, verschweigt er, dass seine Mitglieder profitieren von ausbeuterischen Löhnen. Wenn er von ‹Bürokratie› spricht, meint er: lieber Armutsfälle als ein paar zusätzliche Formulare. Wenn er sich um ‹Aufwände für Unternehmen› sorgt, zeigt er: Profite sind wichtiger als Menschen.» Die Geschichte zeige, so die Aktivist:in weiter, dass soziale Errungenschaften nie geschenkt, sondern erkämpft wurden. Die kämpferische Rede schliesst mit den Worten: «Wer arbeitet, muss von seinem Lohn leben können. Das ist kein Privileg, das ist ein Recht – und dafür werden wir weiterkämpfen!»
Der Ball liegt nun bei den Parlamenten der beiden Städte, ob sie den Fall vor das Bundesgericht bringen wollen (siehe auch Artikel nebenan). Bezüglich der Stadt Zürich macht sich Kollege Björn Resener «keine Sorgen», im Gemeinderat verfügt das rot-grüne Lager über eine Mehrheit. Das Bundesgericht dürft dann den Fall nicht auf die lange Bank schieben. Denn in Bern, Biel und Schaffhausen wird es auch zu Abstimmungen über die Einführung eines Mindestlohns kommen.

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