Die Macht der Gutachten
lmt. Inhaltlich falsche Gutachten von schlechter Qualität führen tagtäglich zu negativen IV-Entscheiden. Es ist ein Geschäftsmodell, welches auf Kosten der Gesundheit von Versicherten Profite schlägt.
Nicht mehr arbeiten können wegen Krankheit, Unfall und/oder Behinderung. Das passiert jedes Jahr tausenden von Menschen in der Schweiz. Die Invalidenversicherung (IV) sollte gesundheitliche Schicksalsschläge auffangen – mit Betonung auf «sollte». Denn mit einer unseriösen Gutachtentätigkeit wird viel Geld verdient. Doch der Reihe nach.
Die Geburtsstunde der Gutachten
Am 1.Januar 1960 wird die IV eingeführt. Für Lohnabhängige sollte die IV das Risiko absichern, im Falle eines Unfalls oder bei langanhaltender Krankheit ohne Lohn dazustehen. Als die IV eingeführt wurde, waren körperliche Beeinträchtigungen der Hauptgrund von Arbeitsunfähigkeit. Mit der Wirtschaftskrise in den 1970er-Jahren und den unvermeidbaren folgenden Wirtschaftskrisen verschärft sich die Lage. Die Rentenzahlen steigen rasant an, und psychische Erkrankungen nehmen zu.
Die IV schreibt Anfang der 2000er-Jahre Milliarden an Defiziten. Dies nützt die SVP als Vorwand, um die Debatte der «Scheininvaliden» zu lancieren. Der damalige Bundesrat Christoph Blocher ist der Drahtzieher der Kampagne und gibt den Ton an. Das Bundesgericht in Lausanne fällt in dieser Zeit einen wegweisenden Entscheid. Es erhöht 2004 die Anforderungen für eine IV-Rente massiv, wenn sich eine Krankheit nicht klar diagnostizieren lässt – Stichwort: somatoforme Schmerzstörung, also starke, langanhaltende Schmerzen, die keine klare körperliche Ursache haben. Der Entscheid führt dazu, dass Zehntausende ihren IV-Anspruch verlieren. Die restriktive Rechtsprechung und damit auch die Praxis zeigen ihre Wirkung: In zehn Jahren – im Zeitraum von 2004 bis 2014 – halbiert sich die Neuberentungsquote. Nicht klar diagnostizierbare Krankheiten lässt die IV fortan systematisch durch private medizinische Gutachter:innen überprüfen. Die neue Praxis führt zum Aufschwung der privaten Gutachterinstitute.
Mittel zum Zweck
Ein Gutachten liefert einer/einem Richter:in etwas, was sie/er nicht hat: medizinischen Sachverstand. Daher ist es unmöglich, dass ein:e Richter:in ein Gutachten korrigieren kann. Basierend auf den Gutachten erfolgt die Rechtsprechung, sprich der Entscheid, ob eine IV-Rente zugesprochen wird oder nicht. Und dabei ist auch Folgendes von zentraler Bedeutung: Wer die IV-Rente verliert, verliert auch immer das Recht auf eine vorzeitige Rente aus der zweiten Säule. Das heisst, jeder negative IV-Entscheid spart Kosten den Pensionskassen. Es liegt schon fast auf der Hand, dass es Kräfte gibt, die an möglichst vielen negativen IV-Entscheiden interessiert sind.
Somit sind die Gutachten auch ein zentrales Instrument, um die Kosten für IV-Renten im Griff zu haben. Das ist politisch gewollt und mehrheitsfähig. Die Kosten von IV-Gutachten steigen von 2008 bis 2024 um das Vierfache. Heute gibt das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) 108 Millionen Franken für IV-Gutachten aus. Im selben Zeitraum steigt die Zahl der Schweizer Bevölkerung um über eine Million Menschen an. Der Logik zufolge müssten bei einer wachsenden Bevölkerung auch mehr Renten gezahlt werden. Falsch. Trotz mehr Menschen sinken die Rentenzahlen und pendeln sich in den letzten Jahren bei rund 220000 Voll- und Teilrenten ein – wegen der Gutachten.
Eine Hand wäscht die andere
Ob Menschen eine IV-Rente erhalten, entscheiden massgeblich private Gutachterfirmen. Eine Kernaufgabe des sogenannten Sozialstaates wird privaten Kapitalgesellschaften übergeben, also privatisiert. Und so wurde das Gutachterwesen zu einem äusserst lukrativen Geschäftsmodell. Seit Jahren nun erhalten private Gutachterinstitute von den IV-Stellen unzählige Aufträge, von denen sie
finanziell mächtig profitierten. Die IV, seit mehreren Jahren hoch verschuldet und (politisch gewollt) unter Spardruck, versucht, die Anzahl der IV-Neurentner:innen so tief wie möglich zu halten. Die Vermutung liegt daher nahe, dass sie an diejenigen Gutachterinstitute Aufträge vergeben, welche die Arbeitsunfähigkeit systematisch zu tief einschätzen. Die Macht der Gutachter:innen über die Versicherten ist enorm, denn die IV-Stellen folgen ihren Beurteilungen praktisch ausnahmslos. Heisst es im Gutachten, dass die versicherte Person 100 Prozent arbeitsfähig sei, wird die IV-Rente verweigert – einerlei, ob Ärzt:innen die Person als nicht arbeitsfähig attestiert haben.
Keine Verbesserung
Am 1.Januar 2022 trat die IV-Weiterentwicklung in Kraft. In Bezug auf medizinische Gutachten wurden damit mehrere Verbesserungen eingeführt. Neu müssen die Gutachtergespräche mittels Tonaufnahme aufgezeichnet werden. Ausserdem sind die Vergabe der Gutachten, die attestierten Arbeitsunfähigkeiten sowie die bezahlten Honorare öffentlich zu machen. Zur Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung wurde zudem eine ausserparlamentarische Kommission geschaffen.
Inclusion Handicap, der schweizerische Dachverband der Behindertenorganisationen, eröffnete nach Inkrafttreten der IV-Weiterentwicklung eine Meldestelle. Das Ziel war, die Begutachtungen zwischen dem alten und dem neuen Recht miteinander zu vergleichen. Das Fazit zeigt ein ernüchterndes Bild: An der Qualität der Gutachten und den darin gestellten Diagnosen hat sich nichts verändert. Die Arbeitsunfähigkeit wird immer noch systematisch zu tief eingestuft. Die Macht der Gutachten hat System: Der bürgerliche Staat und die Pensionskassen sparen «Kosten», und die privaten Gutachterinstitute verdienen sich eine goldige Nase. In die Röhre schauen die Versicherten. Es zeigt aber auch, auf welche Seite der Barrikade die SVP steht.