Der Revolutionär der Praxis

Marius Käch. Mit tiefgreifender Kritik am Kapitalismus und dem Kommunismus als Ziel hat Nguyen Phu Trong Vietnams Weg der sozialistischen Entwicklung neu definiert. Unter seiner Führung hat die Republik bedeutende Fortschritte in Wirtschaft und Gesellschaft erzielt und hat dabei ihre sozialistischen Prinzipien bewahrt.

«Es ist von entscheidender Bedeutung, unbeirrbar auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus zu beharren – der wissenschaftlichen und revolutionären Doktrin der Arbeiterklasse und der werktätigen Massen», so die Worte von Nguyen Phu Trong. Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV) kämpfte bis zu seinem Tod am 19.Juli dieses Jahrs für eine bessere und gerechtere Welt. Dank seines Beitrags bei der Theoriezeitschrift der KPV, im Zentralkomitee, im Politbüro und seit 2011 als Generalsekretär konnte Vietnam die Bambusdiplomatie, eine multilaterale Aussenpolitik des Friedens und Stabilität, umsetzen, erfolgreiche Anti-Korruptionskampagnen durchführen, sowie die Wirtschaft enorm stärken – und nicht zuletzt auch den Wissenschaftlichen Sozialismus weiterentwickeln. Für diese Erfolge genoss Trong bei den Werktätigen hohes Ansehen und wurde kurz vor seinem Tod mit dem Goldenen Stern, der höchstmögliche Auszeichnung in Vietnam, geehrt. Sein Wirken hat einen wichtigen Abschnitt einer langen Revolution geprägt.

Der lange Weg zur Unabhängigkeit
Seit jeher ist die Geschichte Vietnams vom Kampf um nationale Befreiung geprägt. Tausend Jahre chinesische Dominanz in der Feudalzeit, fast hundert Jahre koloniales Joch von Frankreich und die Besatzung durch das faschistische Japan haben tiefe Spuren in Vietnam hinterlassen. Millionen Hungertote, eine desolate und unterentwickelte Wirtschaft waren nur ein paar wenige der Folgen. In der Augustrevolution 1945 konnte sich Vietnam unter der Führung der KPV befreien und die Demokratische Republik gründen, stand aber vor gewaltigen Herausforderungen. Das Land musste rasant entwickelt werden, damit die Menschen in Zukunft in Frieden, Wohlstand und Stabilität leben würden. Doch es folgten fast 30 Jahre Widerstandskriege gegen die einfallende alte Kolonialmacht Frankreich und gegen die US-Imperialist:innen und ihre Marionettenregierung, die 1955 im Süden etabliert wurde. 1975 wurde Vietnam auf dem Schlachtfeld befreit und in der sozialistischen Republik wiedervereinigt. Mithilfe der Sowjetunion und anderer sozialistischer Staaten wurde das zerstörte Land wieder aufgebaut. Aber der Zusammenbruch des Ostblocks und die wirtschaftlichen Sanktionen der kapitalistischen Nationen isolierten Vietnam, das nun als eines der ärmsten Länder der Welt auf sich selbst gestellt war.

Den Dogmatismus überwinden
Diese Herausforderungen erforderten tiefgreifende und pragmatische Reflexion über den Weg in die Zukunft. Inmitten dieses Umbruchs erwachte die Erkenntnis, dass eine neue theoretische und praktische Ausrichtung notwendig war, um den Weg zum Sozialismus an die veränderten globalen und lokalen Realitäten, der sogenannten «Neuen Situation» anzupassen. Der Übergang von der historischen Notwendigkeit führte zur Weiterentwicklung des Marxismus und markiert den Beginn einer entscheidenden Phase in der Entwicklung Vietnams.
Wie man aber in dieser «Neuen Situation» den Sozialismus nun erreichen könne und wie er nach dem Fall des sowjetischen Modells aussieht, musste geklärt werden. Vietnam war nach wie vor ein politisch und wirtschaftlich isolierter sowie unterentwickelter Agrarstaat, der nicht die Produktivkräfte für den Sozialismus besass. Laut Trong führte das zu «Zweifeln in den revolutionären Rängen». Die Korrektheit des Marxismus wurde in seinen fundamentalen Aspekten infrage gestellt, und es mussten Lösungen für die dringenden Alltagsprobleme gefunden werden. So schrieb auch Trong: «Jedoch wurde nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Modells in der Sowjetunion und vielen anderen osteuropäischen Ländern sowie dem Rückgang der Weltrevolution der Fortschritt hin zum Sozialismus erneut infrage gestellt und zum Thema jeder Diskussion, was sogar hitzige Debatten auslöste.»
Bereits 1986, als man die «Neue Situation» bereits kommen sah, führte Vietnam die Doi Moi-Politik ein, die den Marxismus an die historischen Umstände Vietnams anpasste. Das traditionelle planwirtschaftliche System wurde mit Marktmechanismen und einem Privatsektor ergänzt. Dazu sagte Trong: «Während der Jahre von ?oi Moi hat die Kommunistische Partei Vietnams auf Grundlage der Überprüfung der Praxis und des Studiums der Theorie allmählich ein umfassenderes und tieferes Verständnis des Sozialismus und des Übergangs zum Sozialismus erlangt.»

Weiterentwicklung des Marxismus
Nach Trong umfassen die neuen Erkenntnisse die Überwindung von dogmatischen, einseitigen und vereinfachten Sichtweisen sowie die Gewissheit, dass der Kapitalismus als Gesellschaftsform in der Tat übersprungen werden kann. Dies jedoch ein langer, schwieriger und komplexer Prozess sei. Man dürfe demnach den Übergang zum Sozialismus und das Erreichen von dessen nicht vermischen. Dieser Übergang könne verschiedene Formen von Eigentumsverhältnissen beinhalten, die durch den Entwicklungsstand der Produktivkräfte vorgegeben seien. Ein wichtiger Schluss sei auch, dass Marktwirtschaftliche Elemente nicht mit Kapitalismus gleichzusetzen sind.
Für Vietnam seien in dieser Übergangsphase zum Sozialismus die nächsten Schritte, sich zu industrialisieren, die Produktivkräfte zu entwickeln und sich international wirtschaftlich und politisch zu integrieren. Nur durch Fortschritt in Wirtschaft, Lebensqualität und Kultur können die Voraussetzungen für den Sozialismus geschaffen werden. Doch trotz des Rufs nach Wirtschaftswachstum setzte Trong klare Grenzen: «Wir werden auch ganz bestimmt nicht den sozialen Fortschritt und die Gleichheit zugunsten blossen Wirtschaftswachstums opfern.» Trong hielt fest: «Wir müssen den sozialistischen Rechtsstaat des Volkes, durch das Volk und für das Volk aufbauen.» Weiter sagte er: «Jede Richtlinie der Partei, jede Regierungsmassnahme, jedes Gesetz und jede Handlung zielt darauf ab, dem Interesse und dem Wohlstand des Volkes zu dienen.»

Beweise in der Praxis
Die konstanten Fortschritte und Erfolge unter der Führung der Partei unter Trong sprechen eine klare Sprache und zeigen, dass die Republik auf dem Weg zum sozialistischen Tigerstaat ist. Vietnam hat sich diplomatisch behaupten können und ist international integriert, die Sanktionen wurden überwunden. Das BIP hat sich mit der Doi Moi Politik mit über 408 Milliarden USD mehr als versiebenfacht. Die jährliche Wachstumsrate liegt im Schnitt bei sieben Prozent. Die Armut wurde von 58 Prozent im Jahr 1990 auf unter drei Prozent gesenkt. Die Anzahl der Studierenden hat sich in den letzten 35 Jahren um das 17-fache erhöht. Die Lebenserwartung hat sich von 62 Jahren im Jahr 1990 auf 73,7 Jahre erhöht, wobei die Kindersterblichkeit massiv gesunken ist. Die Arbeitsbedingungen verbessern sich stetig: Allein im letzten Juli wurde der Lohn im öffentlichen Sektor um 30 Prozent angehoben.
Auch 79 Jahre nach der Deklaration der Unabhängigkeit durch Ho Chi Minh am 2.September 1945 hat Vietnam noch einen langen Weg vor sich, um den Sozialismus zu erreichen. Bis 2045 soll das Land industrialisiert sein, ein hohes Einkommen haben und die Armut endgültig der Vergangenheit angehören. Weiterhin muss Theorie und Praxis stetig überprüft und angepasst werden, damit die Vision von Trong einer entwickelten sozialistischen Republik «vom Volk, durch das Volk und für das Volk» vollständig erreicht werden wird.

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