Die unermüdliche Kämpferin
lmt. Nora Cortiña, Gründungsmitglied der Madres de Plaza de Mayo, starb am 30.Mai im hohen Alter von 94 Jahren. In Zeiten der Militärdiktatur in Argentinien kämpfte sie gemeinsam mit anderen Müttern für die Freilassung ihrer entführten Kinder. Ein Rückblick auf ihr Leben und ihr Wirken.
30.April 1977. Eine Gruppe von 14 Frauen erscheint auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires, vor der sogenannten Casa Rosada, dem Sitz der Exekutive des Landes. Die Frauen tragen ein weisses Kopftuch, es stellt eine Windel dar und symbolisiert die weisse Friedenstaube, die «alle Frauen vereinen kann». Mit Bildern ihrer verschwundenen Kinder unter dem Arm laufen sie im Kreis um die Plaza de Mayo und fordern deren Freilassung.
Dies war die Geburtsstunde des Kollektivs Madres de Plaza de Mayo. Sie waren die ersten, die sich öffentlich gegen die brutale Militärdiktatur und den «Schmutzigen Krieg» in Argentinien wandten. Eines dieser Gründungsmitglieder war Nora Cortiñas. In einem Interview beschrieb sie die Anfänge des Kollektivs so: «Da der Ausnahmezustand keine öffentlichen Versammlungen erlaubte, begannen wir am Platz im Kreis zu gehen. So konnten wir unseren Schmerz zum Ausdruck bringen und die Menschen, die uns sahen, begannen zu erkennen, was passierte.»
Einfach verschwunden
Nora Cortiñas, die allgemein als Norita bekannt war, kam am 22.März 1930 als eine von fünf Töchtern einer spanischen Einwandererfamilie auf die Welt. Sie ging bis zur sechsten Klasse zur Schule, was zu jener Zeit der Zeitpunkt war, an dem Mädchen normalerweise ihre formale Ausbildung abbrachen. Mit 19 Jahren heiratete sie den sechs Jahre älteren Carlos Cortiñas und erlernte den Beruf der Näherin. 1952 brachte sie Gustavo zur Welt, drei Jahre später den zweiten Sohn Marcelo. «Ich war eine traditionelle Hausfrau», sagte Nora später. «Mein Mann war ein Patriarch. Er wollte, dass ich mich um das Familienleben kümmere.»
Ihr Leben änderte sich schlagartig, als ihr ältester Sohn Carlos Gustavo am 15.April 1977 von Staatsbeamten entführt wurde. Er studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Buenos Aires und war in der Peronistischen Jugend, einer politischen Gruppe, aktiv, mit der er Sozialprojekte in Armenvierteln organisierte. Damit wurde er zur Zielscheibe der rechten Militärdiktatur, die 1976 durch einen von den USA unterstützten Staatsstreich die Kontrolle über Argentinien übernommen hatte. «Er war 24 Jahre alt, hatte eine Frau und einen sehr kleinen Sohn», erinnerte sich Cortiñas. «Eines kalten Morgens ging er hinaus und kam nicht mehr zurück. Er wurde auf dem Bahnhof entführt, auf dem Weg zur Arbeit.» Nora Cortiñas unternahm eine verzweifelte Suche nach ihrem vermissten Sohn und bat um Informationen bei öffentlichen Stellen. Dort lernte sie die anderen Mütter kennen, mit denen sie sich bald schon zusammenschloss.
Militärdiktatur
Argentinien lag damals unter der Militärregierung von Jorge Rafael Videla (1976–1983). Das gewaltsame Vorgehen wurde mit dem als «Nationaler Reorganisationsprozess» bekannten Projekt rechtfertigt. Zusammen mit führenden Köpfen der Wirtschaft und hochrangigen Geistlichen praktizierte das Militär einen Staatsterrorismus, welcher die regierungskritische Zivilbevölkerung verfolgte. Täglich wurden Intellektuelle, Künstler:innen, politische Aktivist:innen, Journalist:innen, Geistliche und Zivilist:innen, die sich gegen die Diktatur organisierten und mobilisierten, Opfer von Folter, Ermordung und gewaltsamem Verschwindenlassen. Die Diktatur, die Argentinien bis 1983 beherrschte, gilt als eine der blutigsten, die in den 1970er- und 1980er-Jahren in mehreren lateinamerikanischen Ländern die Macht übernahmen. Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass etwa 30000 Menschen damals in Argentinien illegal inhaftiert wurden und spurlos verschwanden.
Die Madres de Plaza de Mayo lernten sich kennen, als sie bei Besuchen in Polizeistationen und Militärkasernen versuchten, etwas über ihre vermissten Angehörigen herauszufinden. Die meisten von ihnen waren Hausfrauen. Lachend wurden sie von den Behörden als «Mütter von Terroristen» bezeichnet und mit lächerlichen Aussagen abgewimmelt. Da sie über die offiziellen Wege kaum Antworten erhielten, schlug eine von ihnen, Azucena Villaflor, vor, sich zu organisieren.
Von Müttern zu Kämpferinnen
Die schlichte Wiederholung der Wahrheit und der Ausdruck ihrer Trauer als Mütter kamen zu einer Zeit, als die meisten Argentinier:innen die Brutalität des Regimes entweder ignorierten oder Angst hatten, ihre Stimme zu erheben. Die Bitten der Frauen um Hilfe stiessen bei der Kirche, den meisten Gewerkschaftsführern, der Geschäftswelt und der Presse auf taube Ohren. Sie wurden kritisiert und als «Las Locas» (Verrückte Frauen) bezeichnet. Nachbarn, sogar Freunde, mieden sie. Viele rieten ihnen, sich nicht einzumischen. Im Jahr 1977 liess die Diktatur drei Gründerinnen der Mütter der Plaza de Mayo verschwinden: Esther de Balestrino, Azucena Villaflor und Mary Ponce de Bianco. Eine Task Force drang in einer ihrer Treffpunkte ein, die Kirche Santa Cruz in San Cristóbal. Doch dies hielt Cortiñas und die anderen nicht davon ab, sich in immer grösserer Zahl zu versammeln und zu versuchen, die Aufmerksamkeit einer Gesellschaft zu erregen, die oft gleichgültig schien. Cortiñas beschrieb die damalige Situation: «Die Leute, die über die Plaza de Mayo gingen, sahen uns viele Jahre lang nicht. Wir waren wie unsichtbar. Niemand sprach uns an, um zu fragen, was wir taten, denn ich denke, das ist es, was der Staatsterrorismus hervorbringt: die Angst, zu wissen.»
Obwohl den Frauen unzählige Repressionen und Gewalt an ihren Protesten begegneten, kehrten sie immer wieder auf die Plaza de Mayo zurück. «Auf dem Platz fühlten wir uns stark. Der Platz gab uns das Gefühl, unseren Kindern nahe zu sein», so die Worte der Mütter. Langsam wurde die Aussenwelt auf die Madres aufmerksam. Menschenrechtsgruppen brachten sie zu Konferenzen ins Ausland. Mit der Hilfe einer niederländischen Frauengruppe eröffneten die Madres in Argentinien ein Büro und gaben ihre eigene Zeitung heraus. Sie zerstörten das Bild der machtlosen älteren Frauen und entwickelten sich von einer informellen Gruppe, die hauptsächlich aus Hausfrauen bestand, zu einer international bekannten Organisation von Kämpferinnen.
Nie aufgehört zu kämpfen
Nach dem Ende der Militärdiktatur 1983 machte Cortiñas deutlich, dass ihr Kampf nicht vorbei war. Sie forderte weiterhin Massnahmen von der demokratisch gewählten Regierung. Ihre Enttäuschung über Raúl Alfonsín, den ersten nach der Wiederherstellung der Demokratie gewählten Präsidenten, brachte sie ohne Hemmungen zum Ausdruck. «Während des Wahlkampfes hat Alfonsín immer versprochen, dass die Archive öffentlich gemacht würden, dass es Neuerimgem geben würde, dass etwas aufgeklärt würde», hielt Cortiñas fest. «Die Wahrheit ist, dass das immer noch nicht geschehen ist. Die Akten sind nicht geöffnet worden.» 1986 lösten sich die Mütter der Plaza de Mayo aufgrund interner Spaltungen auf. Cortiñas wurde die Anführerin eines Zweigs, der als Madres de Plaza de Mayo Línea Fundadora bekannt wurde und sich auch für internationale Kämpfe einsetzte. Sie war an Kundgebungen und bei anderen Demonstrationen ständig präsent. «Wir haben einer Diktatur getrotzt und weitergekämpft. Warum sollten wir jetzt aufhören?», entgegnet Cortiñas 2017 gegenüber der New York Times.
Die letzte Ehre
Am 30.Mai 2024 starb Nora Cortiñas im hohen Alter von 94 Jahren in einem Krankenhaus im Bezirk Morón nahe der Hauptstadt. Hunderte Menschen versammelten sich spontan noch am selben Tag auf der Plaza de Mayo vor dem Präsidentenpalast, um Nora Cortiñas an dem Ort, an dem sie unzählige Tage ihres Lebens verbracht hatte, die letzte Ehre zu erweisen. «Der einzige Kampf, der verloren ist, ist der, der aufgegeben wird», lautet einer der bekanntesten Slogans der Madres de Plaza de Mayo. Unerschütterlich, beständig und kämpferisch haben die Mütter und Grossmütter einen Weg des Kampfes für die Menschenrechte in ihrem Land mit internationaler Ausstrahlung, für Wahrheit, Gerechtigkeit, Würde und Leben eingeschlagen. «Ich möchte diese ungerechte Welt verändern», schrieb Cortiñas im Nachwort ihrer 2019 erschienenen Biografie. «Jeden Tag, wenn ich aufwache, habe ich Lust zu kämpfen. Ich empfinde es nicht als Pflicht, sondern als Verpflichtung.»