Das Arbeiter:innentheater: Eine Perspektive für heute?

Szene aus dem Theaterstück «Fiume», das an den Roten Kulturtage im August 2022 im Zürcher Volkshaus aufgeführt wurde. Zu sehen auf dem Foto sind Liam Rooney und Carla Richardsen. Regie führte Artemisia Valisa, geschrieben wurde das Stück von Antonin Rohdich. Bild: Philip Tsapaliras

Antoni Rohdich. Das Arbeiter:innentheater als politische und künstlerische Praxis konnte sich nach den 1940er-Jahren nicht durchsetzen, die bürgerliche Theaterwissenschaft löschte es gezielt aus der Geschichtsschreibung. Die Wiederbelebungsversuche um die Jahre 1968 und 1980 scheiterten. Ein Abriss und Argumentation dafür, warum man es dennoch erneut versuchen sollte.

Was ist das schweizerische Arbeiter:innentheater, und warum scheint niemand davon zu wissen? Von den 1920er- bis 1940er-Jahren gab es im Umfeld der Arbei-ter:innenbewegung, besonders im Umfeld der Kommunistischen Partei der Schweiz (KPS), eine sehr breite und vielfältige Theaterbewegung. Diese durchlief mehrere Phasen, in denen sie sich ideologisch und künstlerisch veränderte.

Unschweizerisch
Die meisten Gruppen waren Laiengruppen, das heisst: Es spielten Arbeiter:innen für Arbeiter:innen – und es schrieben Arbeiter:innen und Genoss:innen für diese Laiengruppen. Diese Bewegung war gross genug, um eigentlich sowohl für die Schweizer Kulturgeschichte als auch für die Theaterwissenschaft eine relevante Rolle einzunehmen. Nur: Die bürgerliche Theaterwissenschaft löschte sie gezielt, und erwähnte sie in den Forschungen zur Volkskultur nicht. Begründet wurde dies zumeist mit nationalistischer, antikommunistischer Argumentation. So schreibt etwa der Regisseur und Theaterwissenschaftler Oskar Eberle (1902–1952), das Arbeiter:innentheater sei «von fremden Formen und Ideologien geprägt» und damit «unschweizerisch».
Dass wir überhaupt gesammelte Informationen haben, verdanken wir dem Fakt, dass im Zuge der 68er-Bewegung und der neuen Linke das Interesse an der Arbei-ter:innenbewegung und der Kombination von Kultur und Klassenkampf wieder aufflammte. So wurde auch zum Ar-beiter:innentheater recherchiert, um die Löschung durch die bürgerliche Geschichtsschreibung wieder aufzuheben. In dieser Zeit entstand auch die Hauptquelle für diesen Artikel: Ivo Freys «Proletarisches, Agit-Prop- und Antifaschistisches Theater» als Doktorarbeit 1983 geschrieben, arbeitete die Geschichte der Theatergruppen anhand von Artikeln aus den Zeitungen der Arbeiter:innen wieder auf – vor allem aus den Parteizeitschriften der KPS, und damit den Vorgängeblättern auch dieser Zeitung.

Festkultur und die Agit-Prop-Grup-pen der 1920er- und 1930er-Jahre
Die ersten Impulse zur Gründung von proletarischen Theatergruppen kamen aus der kommunistischen Festkultur. Diese waren in Organisation und Stimmung jeweils stark mit der momentanen Linie der KP verbunden. Für die KP als Avantgardepartei waren sie in erster Linie ein Mittel für Propaganda und Agitation. Sie orientierten sich an den Feiertagen der Arbeiter:innenbewegung und der Kommunistischen Internationale, so unter anderem dem 8.März, dem Luxemburg-Liebknecht-Tag und dem 1.Mai. Während die frühen Feste sehr stark jenen der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie glichen, entstand zu den Zeiten der stärkeren Abgrenzung der KPS zur Sozialdemokratie (ab 1925, gipfelnd in den Zeiten der Sozialfaschismusthese) das Bedürfnis, die kommunistischen Feste von Volksfesten, sozialdemokratischen und bürgerlichen Festen abzugrenzen: Die KP-Feste sollten nicht nur ein Ort des Feierns und Beisammenseins sein, sondern ein Ort, an dem sich die Klasse selbst erkennen und formen konnte. Zeitgleich sollte gezeigt werden, dass die proletarische Bewegung nicht nur ohne dieselben Geldmittel oder Zugang zu professionalisierter Ausbildung gleich hochwertige Kultur wie die der Bürgerlichen hervorbringen konnte, sondern sogar eine höhere. Als adäquates Mittel hierfür wurde Bühnenkunst gesehen: Es wurde gezielt zur Gründung von Arbeiter:innentheatergruppen aufgerufen.
Die meisten dieser Gruppen waren zuerst Sprechchorgruppen. Der Sprechchor war deshalb beliebt, weil er einerseits mit ästhetischer Kraft inhaltliche Themen und Forderungen gut vermitteln konnte. Und andererseits, weil sich das Publikum durch ihn selbst auf der Bühne als Masse (!) erkennen konnte.
Nach der Tour der deutschen Agit-Prop-Gruppe «Die roten Raketen» wendete sich jedoch die ästhetische Weisung in Richtung Agit-Prop. Agit-Prop war als performative Kunstform in Deutschland sehr erfolgreich und gezielt von der KPD mit gefördert. Die häufigste Form der deutschen Agit-Prop-Stücke war die Revue, die agitatorische Elemente mit dokumentarischen Elementen ästhetisch verknüpften. Es nahmen sowohl die sowjetische Theaterbewegung um Meyerhold als auch der deutsche Regisseur Piscator massgeblich Einfluss auf jene ästhetische Form. Bertolt Brecht schrieb über diese Gruppen: «Wo sie (die Arbeiter) selber dichteten und Theater machten, waren sie hinreissend originell. Die sogenannte Agit-Prop-Kunst, über die nicht die besten Nasen gerümpft werden, war eine Fundgrube neuartiger künstlerischen Mittel und Ausdrucksarten.»
Obwohl mehrere Theatergruppen auf Empfehlung der Partei zur Form des Agit-Prop-Theaters wechselten, waren viele der Agit-Prop Gruppen jedoch in der Schweiz nicht besonders langlebig, und lösten sich nach einer oder zwei Aufführungen wieder auf. Über Stückinhalte ist ebenfalls leider nicht viel ausfindig zu machen.

Das Arbeiter:innentheater im Zeichen des Antifaschismus
Der Sieg des Faschismus in Deutschland und Italien und die veränderte Linie der KP gegenüber der Sozialdemokratie veränderte auch das Schweizerische Arbeiter:innentheater in Stil und Argumentation. Einerseits entwickelte sich eine grössere Offenheit gegenüber anderer dramatischer Formen als jener der Agit-Propaganda, die auch narrativere Elemente enthielten, vom epischen Theater bis hin zum Caberet oder zur Satire. Andererseits wurde jetzt der Einheitsfrontgedanke hochgehalten: Auch wenn die Theatergruppen weiterhin vor allem von Mitgliedern der KP organisiert wurden, traten sie nun auch auf sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Veranstaltungen auf, und versuchten sogar zeitweise, im Namen des Antifaschismus Teile des liberalen Bürgertums für sich zu gewinnen.
In dieser Phase lohnt es sich, einen Blick auf Zürich zu werfen. Hier waren die wichtigsten Truppen die Volksbühne Zürich und die Proletarische Bühne Zürich. Die Volksbühne Zürich war erst unabhängig, aber besass eine Nähe zu allen Arbeiter:innenorganisationen, und schloss sich mit zunehmender Politisierung der KP an. Sie konnte auch auf die Unterstützung professioneller Künstler:innen zählen. Es gab in dieser Phase auch einige Versuche, das Arbeiter:innentheater zu professionalisieren. Sowohl die Idee eines professionalisierten Wandertheaters als auch einer fixen Bühne scheiterten jedoch an der finanziellen Lage der Truppen. Das Arbeiter:innentheater blieb mehrheitlich Laientheater: Die spielenden Arbeiter:innen blieben hauptsächlich von anderer Arbeitstätigkeit abhängig und probten und spielten jeweils nach Feierabend.

Einbruch mit dem Zweiten Weltkrieg und kurzer Frühling 68
Der Krieg und das Verbot der KPS 1941 unterbrachen diese Entwicklungen der proletarischen Theaterkultur rasch. Durch den Krieg schon geschwächt, machte das Verbot die Weiterführungen von öffentlicher Parteiarbeit unmöglich. Es gilt zu vermuten, dass dies einen massiven Einfluss auf die Theatergruppen hatte, die die Parteistrukturen genutzt hatten und benötigten. So lässt sich beobachten, dass mit der Gründung der Partei der Arbeit der Schweiz (PdA) 1944 auch die Theatergruppen wiederbelebt wurden – aber auch wieder verschwanden, sobald die PdA in der Schweiz des Kalten Krieges von Antikommunismus und sozialem Frieden massiv geschwächt wurde.
Die 68er-Bewegung entdeckte dann das Arbeiter:in-nentheater wieder – vor allem als theoretisches Vorbild. Aber es gab auch praktische Versuche in den Folgejahren: Über den PdA-nahen Verein Kultur und Volk wurden wieder Veranstaltungen, auch Theaterveranstaltungen, im Zürcher Volkshaus organisiert. Und auch die 80er-Bewegung orientierte sich teilweise wieder an theatralen Formen, an denen sich schon die Arbeiter:innentheater der 1920er- und 1930er-Jahre bedient hatten.
Gehalten hat sich davon bis in die 2020er-Jahre nicht viel – wieder ist das Arbeiter:innentheater in der breiten Bevölkerung und in der Linken mehrheitlich in Vergessenheit geraten.

Rückkehr der Gewerkschafts- und Arbeiter:innenkultur
In den letzten Jahren bewegte sich viel auf den Strassen von Zürich: Der feministische Streik und der Klimastreik schafften es, für Bewegungen ungewöhnlich stabil und konsistent Menschen zu mobilisieren. Aber nicht nur das: Auch bildeten sich zahlreiche organisatorische Strukturen, viele davon auch kultureller Art. Und: Beide Bewegungen besitzen eine Anbindung an die Gewerkschaftsbewegung, der feministische Streik von Beginn an, die Klimabewegungen seit dem Strike for Future. Sowohl aus diesen Bewegungen selbst, von jungen Gewerkschafter:innen als auch unter Kunstschaffenden begann in diesem Kontext das Interesse an Arbeiter:innenkultur wieder zu wachsen. Und zwar als strategisches Mittel in der Durchführung von Festen in der «Klimaanlage» oder den regelmässigen Proben und Auftritten der Proletarischen Singgruppe.
Und auch mit Bezug zur Geschichte des Schweizer Arbeiter:innentheaters gründeten sich fast zeitgleich zwei Gruppen: Einerseits war da die Wiedergründung vom Verein Kultur und Volk, und anderseits die sehr junge Gruppe Rote Kulturtage. Sie hat das Ziel, die Räumlichkeiten des Zürcher Volkshauses für ein Wochenende wieder für Arbeiter:innenkultur und damit auch die Bühne für Arbeiter:innentheater zu nutzen. Eine erste kleine Version des Festivals «Rote Kulturtage» wurde im Theatersaals des Volkshauses im August 2022 durchgeführt.

Rote Kulturtage
Es existiert aber keine breite, organisierte Kampagne für Arbeiter:innenkultur. Ist es in Zeiten des wiedererstarkenden Faschismus aber nicht gerade das, was gebraucht wird? Das Arbeiter:innentheater des frühen 20.Jahrhunderts ist in seiner Form divers, und auch wenn es vielleicht ästhetische Anstosse bringen kann, zeigt es uns nicht vor allem, dass die Form der Organisierung die politische Kraft des Theaters ausmacht? Nur durch eigene Kulturinstitutionen konnte eine künstlerische Arbeit gehalten werden, die sich vor allem aus der Arbeiter:innenschaft speiste, aber auch Impulse von professionellen Künstler:innen im Dialog zuliess. Gerade das Theater braucht diese Organisation: Proberäume, Kostüme, Aufführungsorte, ohne an die bürgerlichen Institutionen gebunden zu sein, ist nur möglich, wenn es proletarische Institutionen gibt. Ein wirklich politisches Theater braucht also die Bewegung und die Partei, aber brauchen diese auch das Theater? Ja!
Nach vielen Jahren des Mitgliederschwunds gab es einen kleinen Aufwind für die Linke in den jüngeren Generationen, die, in einem historischen Momentum, sich auch organisiert haben. Die Frage ist, wie man diese Menschen auch auf der Strasse in weniger heissen Phasen halten kann – und aktiv behalten. Dafür müssen die Bewegungen auch kulturelle Gemeinschaften sein, und das Theater ermöglicht genau das – während es gleichzeitig seine alte Aufgabe erfüllt: Für die Klasse der Ort zu sein, indem sie sich selbst als Klasse erkennt – auch ganz subjektiv. Es wäre also wünschenswert, gäbe es eine Kultur, und im Rahmen dessen, erneut eine Theaterinstitution innerhalb der Gewerkschaften, der Bewegungen oder der Parteien. Und es geht ja auch weiter: Mit etwas mehr Vorbereitungszeit werden die Roten Kulturtage für den Herbst 2024 vorbereitet: Das Festival soll dieses Mal um die zwei Wochen dauern, und die Organisator:innen suchen rege den Kontakt mit Gruppierungen, Bewegungen und Gewerkschaften.

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