Das politische Leben Antonio Gramscis

Sabine Kebir. Antonio Gramsci legte die strategische Basis für die erfolgreiche Arbeit der Kommunistischen Partei Italiens im antifaschistischen Widerstand und für die Jahrzehnte nach dem 2.Weltkrieg. Er erkannte, dass ein erfolgreiches revolutionäres Bewusstsein nicht nur politisch, sondern auch kulturell und von historischem Wissen geprägt sein muss.

Antonio Gramsci wurde am 22.Januar 1891 in Ales auf Sardinien in der Familie eines kleinen Beamten geboren, die in prekären Verhältnissen lebte. Ein früher Unfall führte zu Behinderungen und starken gesundheitlichen Einschränkungen. 1911 gewann er ein für Kinder Unbemittelter bestimmtes Stipendium für die Universität Turin. Er belegte dort die Fächer italienische, griechische und Weltliteratur, Geschichte, Philosophie und Sprachwissenschaft. Einen grossen Einfluss übte die säkular-idealistische Philosophie Benedetto Croces auf ihn aus. Er beschäftigte sich aber auch bereits mit marxistischer Literatur.

Die Räterepublik als Ziel
Der junge Gramsci hatte der sardischen Autonomiebewegung angehangen, die pauschal den industrialisierten Norden für die Armut des Südens und der Inseln verantwortlich machte. In Italiens damals grösster Industriemetropole Turin erkannte er schnell den gesellschaftlichen Hauptantagonismus zwischen Kapital und Arbeit. 1913 trat er dem Partito Socalistista Italiano (PSI) bei und begann für dessen Zeitungen zu schreiben. Kurz nach Kriegsbeginn wäre er fast ausgeschlossen worden, weil er einen Artikel zur Unterstützung des Direktors des Avanti, des Zentralorgans des PSI, Benito Mussolini, geschrieben hatte. Dieser hatte den Parteibeschluss, «den Krieg weder zu unterstützen noch zu sabotieren» kritisiert: Das italienische Proletariat dürfe den Krieg nicht passiv hinnehmen – was Gramsci als Revolutionsaufruf missverstanden hatte. Nachdem sich Mussolini offen für einen interventionistischen Kurs ausgesprochen hatte, wurde er ausgeschlossen. Gramsci kam mit einer Verwarnung davon. Nach den internationalen Konferenzen von Zimmerwald (1915) und Kienthal (1916) schloss er sich den Positionen Wladimir I.Lenins an, der verlangte, den Völkerkrieg in eine soziale Revolution zu transformieren. Gramsci übernahm diese Forderung, als er 1917 Sekretär der Turiner Sektion des PSI wurde. Mit dem Ziel, eine Räterepublik nach russischem Vorbild zu errichten, stellte er sich in Gegensatz zur Parteileitung, die an einer reformistisch-evolutionären Perspektive festhielt.

Der Versuch der Umsetzung
1919 schlug Gramsci die Umwandlung der Internen Betriebskommissionen in Arbeiterräte vor, was sich gegen Jahresende realisierte. Die zur Bekämpfung der Rätebewegung nach Turin geschickten Soldaten konnte er zur faktischen Verbrüderung mit den Räten bewegen, weshalb sie wieder abgezogen wurden. Die FIAT-Werke, damals der grösste Industriekomplex Italiens, wurden zum Zentrum der Bewegung. Es entstanden aber auch Räte aller möglicher Berufssparten, Stadtteilräte und im Umfeld der Stadt auch Bauernräte. Im April 1920 traten 200000 Arbeiter:innen in einen Generalstreik, der aber von der PSI nicht unterstützt und zugunsten der Unternehmer geschlichtet wurde. Im September begannen Betriebsbesetzungen. In den unter proletarischer Leitung stehenden FIAT-Werken wurde die Produktion aufrechterhalten, obwohl die meisten qualifizierten Kader das Betriebsgelände nicht mehr betraten. Im Büro des Fiat-Besitzer Giovanni Agnelli sass jetzt der sozialistische Arbeiter Giovanni Parodi. Für Gramsci blieb diese Zeit die Bestätigung, dass das Proletariat in der Lage war, auch seinen eigenen Staat zu errichten. Niedergerungen wurde die Rätebewegung in Kombination von massiver militärischer Gewalt des Staates und von Mussolini organisierten faschistischen Terrorbanden.

Revolutionäres Bewusstsein
Presseorgan der Rätebewegung war der 1919 unter Gramscis Leitung stehende Ordine Nuovo, dem Lenin bescheinigte, die einzige italienische Gruppierung zu vertreten, die nach den Prinzipien der III.Internationale agiere. Die Zeitschrift hatte nicht nur als politisches Kommunikationsinstrument der Rätebewegung fungiert, sondern auch der kulturellen Bildung grosse Bedeutung zugemessen. Neben Nachrichten aus der internationalen Rätebewegung brachte sie auch Artikel wichtiger internationaler Kriegsgegner und Linker: unter anderem Gedichte von Walt Withman, Artikel von Henri Barbusse, Kulturpolitisches von Anatoli Lunatscharski. Für Gramsci stand damals schon fest, dass ein erfolgreiches revolutionäres Bewusstsein nicht nur politisch, sondern auch kulturell und von historischem Wissen geprägt sein müsse. Der Ordine Nuovo, der die Rätebewegung für einige Jahre überlebte, organisierte 1921 die Gründung einer Italienischen Sektion des russischen Proletkults.
Die kulturpolitische Seite der Zeitschrift war neu nicht nur im Profil der PSI, sondern auch für die meisten der italienischen Linken, die sich 1921 von ihr abspalteten und die Partito Communista Italiano (PCI) gründeten. Amadeo Bordiga, ihr erster Vorsitzender, der eine Rätebewegung in Neapel geleitet hatte, sah in der Beschäftigung junger Proletarier:innen mit kulturellen Fragen die Gefahr ihrer Verbürgerlichung. Er strebte rasch eine staatsstreichähnliche Revolution in Italien an, ähnlich der russischen Revolution. Während Bordiga das Ziel mit einer kleinen, streng organisierten Kaderpartei anvisierte, plädierte eine minoritäre Gruppe um Gramsci und Palmiro Togliatti, den er schon aus Studienzeiten kannte, für eine breitere Arbeiter:inneneinheit auf der Basis der Gewerkschaften und für die Mobilisierung der Volksmassen gegen die ständig wachsende Gefahr von Rechts. Faschistische Banden brandschatzten bereits sozialistische und kommunistische Parteibüros und Redaktionen von Zeitungen.

Die Wahl ins Parlament
1922 nahm Gramsci am IV. Kongress der III. Internationale in Moskau teil, und während eines anschliessenden längeren Sanatoriumsaufenthalts lernte er seine spätere Frau Guiglia Schucht kennen, deren Familie vor der Revolution im italienischen Exil gelebt hatte. 1922 wurde Mussolini die Regierungsgewalt übertragen. Noch konnte er das demokratische System nicht abschaffen, aber die Repression nahm weiter zu. Gramsci gewann die Überzeugung, dass die revolutionäre Welle, die die europäischen Nachkriegsgesellschaften erfasst hatte, zu Ende sei und eine längerfristige Strategie der Abschaffung des Kapitalismus entwickelt werden müsse. 1923 wurde Bordiga verhaftet, auch gegen Gramsci lag ein Haftbefehl vor. Im November verliess er Moskau und ging nach Wien, um von dort aus die italienische Situation besser beobachten und einen Teil der dort unter schwersten Bedingungen stattfindende Parteiarbeit organisieren zu können.
Während der Rätebewegung hatte Gramsci das System der parlamentarischen Repräsentanz abgelehnt. Nun erkannte er aber an, dass sich die Arbeiter:innenklasse unter der bürgerlichen Demokratie immerhin eigene Organisationen hatte schaffen können, denen durch den faschistischen Totalitarismus die völlige Vernichtung drohte. Er erkannte auch, dass der Kampf um den künftigen Sozialismus im Faschismus unmöglich und eher innerhalb der bürgerlichen Demokratie zu führen war. Als er im April 1924 in der Region Veneto zum Deputierten gewählt wurde, kehrte er unter dem Schutz der Immunität nach Italien zurück und wurde parlamentarischer Fraktionsführer der PCI.
Als Mussolini nach monatelangem Leugnen den Mord an dem sozialistischen Abgeordneten Giacomo Matteotti durch Schwarzhemden zugeben hatte, zogen alle nichtfaschistischen Parteien aus dem Parlament aus und versuchten, im Aventin ein Gegenparlament zu organisieren. Gramsci forderte, dieser Initiative durch einen Aufruf zum Generalstreik gesellschaftliches Gewicht zu verleihen. Damit kam dem PCI der Verdienst zu, den ernstesten Versuch zur Rettung der Demokratie zu unternehmen. Der Vorschlag wurde von den bürgerlichen Parteien und vom PSI abgelehnt und der Aventin fand zu keiner regelmässigen Arbeit. Mussolini nahm das 1926 zum Anlass, das Parlament offiziell aufzulösen.

Die südländische Frage
Da die Leiche Matteottis von Kommunisten entdeckt worden war und das Zentralorgan der Partei, die Unità, als erste darüber berichtet hatte, wurde der PCI als wichtigste antifaschistische Kraft wahrgenommen. In den zwei Jahren, die Gramsci noch bis zu seiner Verhaftung blieben, gelang es ihm, trotz der sich verschärfenden Repression aus Bordigas Kaderpartei eine Partei mit einer Massenbasis zu schaffen. Auf einem – wegen der auf italienischem Boden drohenden Gefahren – im französischen Lyon abgehaltenen Parteitag wurde er 1926 zum Generalsekretär des PCI gewählt.
Kurz vor seiner Verurteilung wegen «Hochverrats» verfasste er eine bahnbrechende Schrift: «Die süditalienische Frage». Während die von Stalin geführte Komintern auf einen sektiererischen Kurs zusteuerte, der Bündnisse mit anderen politischen Gruppierungen verwarf, skizzierte Gramsci hier einen Kurs, der zu einem Bündnis der vor allem im italienischen Norden konzentrierten Industriearbeiterschaft mit den Bauern des Südens aufrief. Für ihn waren sogar Bündnisse mit den Popolari denkbar, einer katholischen Partei, der es zum ersten Mal gelungen war, Bauern überhaupt zu organisieren. Ebenso bedeutsam war auch die Forderung eines Bündnisses der Arbeiter:innenklasse mit den Intellektuellen, den Kräften der Kultur.
Beunruhigt über den in der Sowjetunion ausgebrochenen Streit zwischen Anhängern Stalins und Trotzkis übermittelte er Togliatti, dem damaligen Vertreter der PCI in Moskau, einen Brief an das Zentralkomitee der KPDSU, in dem er ein demokratisches Verfahren bei der Lösung des Konflikts anmahnte. Er machte darin auch auf den desaströsen Einfluss aufmerksam, den eine gewaltsame Eskalation des Konflikts auf die westeuropäische Arbeiter:innenklasse hätte. Aus Sorge, dass Gramsci wegen dieses Briefs die Exkommunizierung drohte, hat Togliatti ihn nicht übergeben.

Eine wesentliche Herausforderung
In einem Hochverratsprozess wurde Gramsci 1926 zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt. Wegen seiner schwachen Gesundheit hatte er kaum Chancen, sie zu überleben, zumal die Haftbedingungen sehr hart waren. Erst 1929 erhielt er die Erlaubnis, Bücher zu empfangen und in der Zelle zu schreiben. Piero Sraffa, ein enger Freund, der damals eine Professur in Oxford innehatte, eröffnete ihm ein Bücherkonto. Er konnte ihn auch mehrfach besuchen und hielt den Kontakt zur Exilzentrale des PCI in Moskau aufrecht. Gramscis letzter, von Sraffa übermittelter Rat war, nach dem Sieg über den Faschismus an einer verfassunggebenden Versammlung aller nichtfaschistischer Parteien teilzunehmen.
Tatiana Schucht, die in Italien verbliebene Schwester Giuglias, konnte die Gefängnishefte retten und nach Gramscis Tod 1937 in Moskau Togliatti übergeben, der sie ab 1949 in Italien herausgab. Versteckt in Rezensionen und in einer Tarnsprache verfasst, hinterliess Gramsci mit seinen Gefängnisschriften eine politische Philosophie, die ungeachtet dessen, dass sie schwer zu extrahieren ist, die strategische Basis für die erfolgreiche Arbeit des PCI in der antifaschistischen Resistenza und für die Jahrzehnte nach dem 2.Weltkrieg legte. Insbesondere die von ihm vorgeschlagene breite Bündnispolitik, die als Teil seiner Zivilgesellschaftstheorie anzusehen ist, bleibt die wesentliche Herausforderung auch für die künftige Durchsetzung sozialistischer Ziele.

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