Es ist fünf vor zwölf
lmt. Die Präventionskampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» findet jährlich vom 25.November bis 10.Dezember statt. Während diesen Tagen wird geschlechtsspezifische Gewalt in verschiedenen Aktionen schweizweit thematisiert. Aber der Trend des Bundesrats geht in die falsche Richtung.
430 000 Vergewaltigungsopfer, alle zwei Wochen ein Feminizid, über 50 registrierte Fälle von häuslicher Gewalt pro Tag – so sieht die Faktenlage in der Schweiz in Bezug auf geschlechtsspezifischer Gewalt aus. Um diese Thematik, die gerne von den Medien und der Regierung verharmlost wird, aus dem Schweigen zu holen, starteten am 25.November die jährlichen «16 Tage gegen Gewalt an Frauen». Aber wieso genau 16? Die Aktionstage beginnen stets am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen (25.November) und enden am Tag der Menschenrechte, dem 10.Dezember. Dazwischen liegen 16 Tage, die auf geschlechtsspezifische Gewalt aufmerksam machen. Mit diesen Daten soll deutlich gemacht werden, dass Frauenrechte Menschenrechte sind. Geschlechtsspezifische Gewalt ist immer auch eine Menschenrechtsverletzung. Wobei angemerkt werden muss, dass auch queere Menschen eingeschlossen werden, da sie von jener Gewalt ebenso betroffen sind.
Erst seit 2008
Die Kampagne «16 Days of Activism Against Gender Violence» wurde 1991 vom Women‘s Global Leadership ins Leben gerufen. Seit 1991 schlossen sich über 187 Länder und bislang mehr als 5000 Organisationen der internationalen Kampagne an. Doch die Schweiz fehlte bis 2008. In jenem Jahr ergriff die feministische Friedensorganisation «Frida» die Initiative und lancierte erstmals die Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» in der Schweiz. Seither tragen jährlich rund 180 Menschenrechtsorganisationen mit einem vielfältigen Programm an Aktivitäten und Veranstaltungen zur Kampagne bei. Gemeinsam wird ein wichtiger und starker Beitrag für eine gewaltfreie und gleichgestellte Gesellschaft geleistet. «Nur wenn wir Gewalt und all ihre Formen sichtbar machen und sie im Kontext der patriarchalen Strukturen verorten, kann sie bekämpft werden», erklärt Rita Maiorano, langjährige feministische Aktivistin.
Die schleichende Gewalt
Geschlechtsspezifische Gewalt kennt viele Formen, deshalb steht jedes Jahr ein anderes Thema im Zentrum. So wird die Vielfalt von Gewaltformen und Gewaltbetroffenen sichtbar. Weiter kann die Kontinuität der Arbeit gegen Gewalt aufgezeigt werden. Dieses Jahr liegt der Fokus auf der psychischen Gewalt.
Sevin Satan, feministische Aktivistin, meint dazu: «Über 40 Prozent der Frauen in Europa sind von psychischen Gewalterfahrungen betroffen. Rund 20 Prozent der Frauen haben mindestens ein Mal in ihrem Leben Stalking erlebt.» Sie fügt hinzu: «Nährboden für diese Gewalt sind patriarchale Strukturen, Abwertung von Frauen und ungleiche Machtverhältnisse.» Beleidigungen, Erniedrigungen, Drohungen, Anschreien, Stalking, Einschüchterungen, Morddrohungen, Erzeugen von Schuldgefühlen, Verbote und Kontrolle: All dies sind Formen psychischer Gewalt, um nur einige zu nennen. Sie zielt darauf ab, Gefühle, Gedanken, Selbstsicherheit und Selbstwertgefühl eines Menschen anzugreifen und ihn so ohnmächtig zu machen. Da psychische Gewalt oftmals schleichend beginnt, nehmen Betroffene und deren Umfeld sie meist während langer Zeit nicht wahr. Typisch ist, dass sie sich langsam, aber stetig steigert. Dabei nehmen der Druck auf die Betroffenen, die ausgeübte Kontrolle sowie die Drohungen zu. Mensch kann sich das am Bild einer Gewaltspirale verdeutlichen. Vielfach ist psychische Gewalt Teil der häuslichen Gewalt.
Zu teuer
«Es ist traurig, dass wir im Jahr 2023 immer noch auf Gewalt gegen Frauen und queere Personen aufmerksam machen müssen», beteuert Rita Maiorano. Sie macht wei-ter auf einen wichtigen Punkt aufmerksam: «Seit 2018 ist die Istanbul-Konvention in der Schweiz in Kraft. Diese verpflichtet die Schweiz, umfassende und diskriminierungsfrei Massnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zu ergreifen.» Doch zu wenig hat sich getan. Die offizielle Schweiz nimmt ihre Verpflichtungen nur schwammig ernst. Sie stellt unzureichende Ressourcen gegen verschiedene Gewaltformen zur Verfügung. Es kommt noch schlimmer. Mit einem aktuellen Beschluss des Bundesrats möchte Finanzministerin Karin Keller-Sutter sämtliche Gelder für Präventionskampagnen gegen Gewalt streichen. Es betrifft die parlamentarischen Vorstösse, welche eine Finanzierung von regelmässigen nationalen Präventionskampagnen gegen häusliche und sexuelle Gewalt verlangten. Der Bundesrat machte sich letztes Jahr zunächst noch stark dafür und die Räte folgten mit einer deutlichen Mehrheit. Doch für die Umsetzung bräuchte es aus rechtlichen Gründe ein Extrabudget von gut zwei Millionen Franken. Dies ist der Vorsteherin des Finanzdepartements ein Dorn im Auge, infolgedessen wurde das Budget abgelehnt. Das sorgte berechtigterweise für Furore – nicht nur in linken Kreisen.
Es ist Zeit
Um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, ist es unausweichlich, festgefahrene patriarchale Strukturen zu durchbrechen. Denn sie ermöglichen es erst, dass jegliche Formen geschlechtsspezifischer Gewalt auf fruchtbaren Boden treffen. Die Kampagne «16 Tage Gewalt an Frauen» leistet einen wichtigen Beitrag in der Sensibilisierungs-, Aufklärungs- und Präventionsarbeit. Doch 16 Tage im Jahr reichen nicht aus, um ein ganzjähriges, jeden Tag auftretendes Problem zu bekämpfen. Es braucht Ressourcen. Konkret bedeutet dies, dass der Bund endlich Geld in die Hand nehmen muss, um seine Verpflichtungen nachzukommen. Es reicht eben nicht aus, eine Konvention zu unterschreiben. Die wichtige Arbeit der Gleichstellungsorganisationen und Beratungsstellen muss unterstützt und ausgeweitet werden. Wie viele FINTAs müssen denn noch leiden und sterben, damit die Politik endlich aufwacht?