Jesus war Kommunist
sit. Christentum und Marxismus können verschiedene Berührungspunkte haben. Ein Beispiel dafür ist die Befreiungstheologie. Sie wurde zum Sprachrohr der Unterdrückten für ihre Befreiung. Im Dialog zwischen Christ*innen und Marxist*innen war der Schweizer Kommunist Konrad Farner von grosser Bedeutung.
Die Idee, die traditionelle Thema-Sonderbeilage zum Jahresende dieser Zeitung diesmal dem Thema Christentum und Marxismus zu widmen, kam mit dem Text «Lohn, Preis und Profit» (siehe Seite 10) des Genossen Gerhard Oberkofler. Er schickte aus Wien «flockige» Grüsse, da es gerade schneite, als er seine E-Mail am Schreiben war. Der Titel lässt vermuten, dass es sich um einen theoretischen Beitrag zu einem der Standardwerke des Marxismus handelt. Doch im Text ist zu lesen: «Franziskus von Assisi ist mehr denn je das Vorbild heutiger Rebellion gegen falsche Werte; er ist der Aufruhr gegenüber der tatsächlichen Entchristlichung des Lebens als Vermaterialisierung, er ist der Aufruhr gegenüber dem Leistungsprinzip kapitalistischer Arbeit.»
Papst Franziskus
Der Universitätsprofessor in Ruhestand Oberkofler (80) geht auch auf den aktuellen Papst Franziskus ein, der «keine Charaktermaske bürgerchristlichen Nächstenliebe» sei. Dass der Papst sich vom Heiligen aus der Toskana inspirieren lässt, beweist er auch in seiner Botschaft zum 5.Welttag der Armen im November 2021. Darin ist zu lesen: «Das Evangelium Christi drängt uns, eine ganz besondere Aufmerksamkeit für die Armen zu haben. Und es erfordert, die vielfachen – zu vielen – Formen moralischer und sozialer Unordnung zu erkennen, die stets neue Formen der Armut hervorrufen.»
Die antikommunistische Hetze
Der Artikel «Lohn, Preis und Profit» handelt aber auch vom Schweizer Kommunisten Konrad Farner. Dies ist kein Zufall, denn Oberkofler hat 2015 mit seinem Buch «Konrad Farner. Vom Denken und Handeln des Schweizer Marxisten» eine lesenswerte Biografie über das PdA-Gründungsmitglied geschrieben. Der Philosoph und Kunsthistoriker Farner ist für die jüngere Generation kaum noch ein Begriff. Wenn, dann wird er mit der antikommunistischen Hetze während des Kalten Kriegs in Verbindung gebracht. Dies insbesondere mit dem Vorfall im Jahr 1956 rund um die Ereignisse in Ungarn, der als «Pogrom von Thalwil» seinen traurigen Eintrag in die Geschichtsbücher fand. Am Abend des 16.November versammelte sich ein antikommunistischer, wütender Mob von rund 300 Personen vor dem Haus der Familie Farner in Thalwil. «Hängt ihn! Hängt ihn!», skandiert die aufgehetzte Menge. Die Fassaden wurden beschädigt und es wurde gar versucht, das Haus zu stürmen. Farners Ehefrau schaffte es noch rechtzeitig, die Türe von innen zu blockieren. Die Familie konnte dank der Hilfe von PdA-Genoss*innen fliehen und in Sicherheit gebracht werden.
Auslöser des Überfalls auf den Genossen Farner und seiner Familie war ein Artikel, der am 13.November 1956 in der NZZ veröffentlicht wurde. Er stammt aus der Feder von Ernst Bieri. Er studierte Theologie, wurde NZZ-Redaktor, Freisinniger Stadtrat von Zürich, Nationalrat und schliesslich Leitungsmitglied bei der Bank Julius Bär. Bieri schrieb ganz im Stil eines Denunzianten: «Die alten Komintern-Agenten in der deutschen Schweiz können sich um die Stellungnahme zur sowjetischen Intervention nicht so leicht herumdrücken wie die Genossen in Genf. Woog und Bodenmann sind ‹untergetaucht›, um den unbequemen Fragen an der Wohnungstüre und am Telephon zu entgehen. Vielleicht kann an ihrer Stelle Dr. Konrad Farner Auskunft geben; er ist jetzt zurück aus Berlin und wohnt in Thalwil an der Mühlebachstrasse 11.»
Ein edler Mensch
Vier Tage später berichtet die NZZ lakonisch, vor dem Wohnsitz des Dr. Farner habe am Freitagabend eine «Demonstration» stattgefunden, die «ohne Zwischenfälle» zu Ende gegangen sei. Doch nicht der bis heute tief sitzende Antikommunismus der NZZ ist hier das Thema, sondern wie Oberkofler treffend schreibt: «Der Zürcher Kommunist Konrad Farner gehört zu den Pionieren des heute weder zum Nutzen der Kommunist*innen noch zum Nutzen der Christ*innen in die Vergessenheit gedrängten Dialogs zwischen Christ*innen und Marxist*innen.» Farner war der Meinung, dass das marxistische Weltbild wie das christliche Weltbild die Liebe im Zielpunkt hat, «einen ethischen Menschen, einen gemeinnützigen Menschen, einen barmherzigen Menschen, einen edlen Menschen, einen guten Menschen» (Zitat aus einer Diskussion mit dem Berner Pfarrer Kurt Marti im Jahr 1971).
Umfassende Gesellschaftskritik
Von Farner ist der Weg zur Befreiungstheologie nicht mehr weit. Die Bewegung entstand in den 1960er-Jahren in Lateinamerika, als in dieser Region der Welt zahlreiche Militärdiktaturen unter gütiger Mithilfe der USA wüteten. Die Vertreter*innen der Befreiungstheologie verstanden sich als «Sprachrohr der Unterdrückten und verwenden ihre Interpretation der biblischen Tradition als Impuls für eine umfassende Gesellschaftskritik», wie Mareike Lühring in ihrem Text schreibt (siehe Seite 13). Und: «Sie sehen die Befreiung als durchgehendes Hauptthema der Bibel und definieren die Armen und Unterdrückten als zentrale Adressaten dieser Befreiung. Gemeint ist eine Theologie, die von der sozialen Wirklichkeit der Menschen ausgeht und soziale Gerechtigkeit in ihr Zentrum stellt.» Ein verbindender roter Faden zwischen der Befreiungstheologie und dem Marxismus ist die Befreiung der Unterdrückten.
Priester im bewaffneten Kampf
Bekämpft wurde die «Theologie der Armen» von den Militärdiktaturen und dem Klerus in Rom. Für die offizielle katholische Kirche war die Bewegung aus Lateinamerika eine Art marxistische Seuche. So wundert es wenig, dass zahlreiche Vertreter*innen und Aktivist*innen der Befreiungstheologie ermordet wurden. Trauriges Beispiel dafür ist die Ermordung des Erzbischofs von San Salvador Óscar Romero. Er wurde 1980 während einer Predigt von einem Auftragsmörder der Regierung erschossen.
Andere Geistliche beschlossen gar, sich dem bewaffneten Kampf anzuschliessen. So wie Camilo Torres in Kolumbien, er schloss sich den Reihen der Guerillaorganisation Ejército de Liberación Nacional (ELN, Nationale Befreiungsarmee) an und starb im Kampf gegen die kolumbianische Armee (siehe Seite 15). Zuerst war Torres Studentenpastor an einer Universität. Danach kämpfte er jahrelang auf legalem Weg für Gerechtigkeit und gegen die Unterdrückung. Doch, wie so viele, kam auch Torres zur Einsicht, dass mit der kolumbianischen Oberschicht keine Kompromisse möglich waren. Torres schrieb in seinem letzten Aufruf an die Bevölkerung: «(…) Daher ist die Revolution für die Christen, die in ihr die einzig wirksame und umfassende Möglichkeit sehen, die Liebe zu allen Menschen zu verwirklichen, nicht nur erlaubt, sondern sie ist eine Pflicht.»
Miteinander, nicht gegeneinander
Der Abschluss macht der Rückblick auf die Jubiläumsveranstaltung des Schweizerischen Friedensrats. Insbesondere auf das Referat von Dr. Phil. Theodor Ziegler, Religionspädagoge aus Baiersbronn im Schwarzwald mit dem Titel: «Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik: Ein Szenario bis zum Jahr 2040». Unter anderem zeigt er auf, warum Krieg in Kultur und Religion verankert ist. Ziegler wies auf die Notwendigkeit von Abrüstungsschritten hin. Sicherheit sollte nicht gegen jemanden, sondern mit jemandem geschaffen werden. Wir wünschen eine interessante Lektüre.