Ernüchternde Bilanz nach einem Jahr Neustrukturierung im Asylbereich
Noémi Weber. Das «Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich» veröffentlichte Anfang Oktober seine Bilanz zur einjährigen Umsetzung der Neustrukturierung des Asylbereichs. Die Auswertung des Bündnisses zeigt, dass das Tempo im neuen Asylverfahren zu hoch ist und der mandatierte, staatlich finanzierte Rechtsschutz nur ungenügend funktioniert.
Seit dem 1.März 2019 ist das neue Asylverfahren in Kraft. Das Hauptziel der Neuerungen war die Beschleunigung der Verfahren. Dies sollte vor allem durch die zentralisierte Unterbringung der asylsuchenden Personen in Bundesasylzentren und die Verkürzung sämtlicher Fristen erreicht werden. Um die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens zu gewähren, wurde zudem ein staatlich finanzierter Rechtsschutz eingeführt, welcher die rechtliche Vertretung aller Asylsuchenden sicherstellen soll.
Ziele des Bündnisses
Das «Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich» ist ein Zusammenschluss aus verschiedenen unabhängigen Beratungsstellen, Organisationen, Anwält*innen und engagierten Einzelpersonen aus dem Asylbereich. Mitglieder sind unter anderem die Freiplatzaktionen in Zürich und Basel, die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA) oder die Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz. In seiner Bilanz hat das Bündnis eigene Daten sowie öffentlich zugängliche Statistiken analysiert. Es kam zum Schluss, dass die Neustrukturierung keinesfalls überwiegend positive Auswirkungen mit sich gebracht hat, wie es das Staatssekretariat für Migration (SEM) in seiner Bilanz vom Februar 2020 noch vermitteln wollte.
Zeitmangel als Hauptkritik
Eine Hauptkritik des Bündnisses ist das zu hohe Tempo im neuen Asylverfahren. Dies lässt sich am folgenden Fall illustrieren: «Jaron» reiste im Juli 2019 aus Algerien in die Schweiz ein und stellte ein Asylgesuch. Dieses wurde im Oktober 2019 abgelehnt. Das SEM hatte Zweifel an seiner vorgebrachten Bedrohungslage. In seiner Beschwerde vor Bundesverwaltungsgericht rügte «Jaron», dass das SEM den Sachverhalt ungenügend abgeklärt und somit den Untersuchungsgrundsatz verletzt hat. Das Bundesverwaltungsgericht hiess die Beschwerde gut und wies den Fall ans SEM zurück. (Dokumentierter Fall Nr. 365 der SBAA)
Zudem kritisierte das Gericht, dass das SEM den Fall im beschleunigten Verfahren behandelte und nicht ins erweiterte Verfahren überwies. Denn im neuen Asylverfahren legt das SEM nach der Befragung zu den Asylgründen fest, ob das Asylgesuch im beschleunigten oder erweiterten Verfahren entschieden wird. Wenn alle Fakten und Beweismittel gesammelt werden konnten, wird das Gesuch im beschleunigten Verfahren behandelt. Dieses wird nach maximal 140 Tagen abgeschlossen. Ansonsten sollte es im erweiterten Verfahren behandelt werden, welches rund ein Jahr dauert.
Bei der Einführung des neuen Asylverfahrens ging das SEM davon aus, dass 40 Prozent aller Asylgesuche im erweiterten Verfahren behandelt werden. Nach einem Jahr zeigt sich nun, dass es lediglich 18 Prozent waren. Der Nachteil des beschleunigten Verfahrens ist jedoch, dass es zeitlich eng getaktet ist und durch das hohe Tempo die Asylgründe – vor allem die medizinische Situation der Gesuchsteller*innen – oft nur ungenügend abgeklärt werden. Dadurch ist die Qualität der Asylentscheide mangelhaft. Dies zeigt sich sowohl an den dokumentierten Einzelfällen des Bündnisses als auch an der hohen Rückweisungsquote vor Bundesverwaltungsgericht. Insgesamt wurden 21.2 Prozent der Beschwerden erfolgreich vor dem Bundesverwaltungsgericht geführt. Früher, vor der Neustrukturierung, waren es lediglich 11.4 Prozent.
Zu häufige Mandatsniederlegung
Obwohl «Jaron» mit dem negativen Entscheid des SEM nicht einverstanden war, legte die staatlich finanzierte Rechtsvertretung ihr Mandat aus Gründen der Aussichtslosigkeit nieder. Von Gesetzes wegen kann sie ihr Mandat nach dem Asylentscheid niederlegen, wenn eine Beschwerde als aussichtslos erscheint. «Jaron» war somit gezwungen, innerhalb der sehr kurzen Beschwerdefrist von sieben Arbeitstagen eine neue Rechtsvertretung zu suchen. «Jaron» fand eine Beratungsstelle, die eine Beschwerde vor Bundesverwaltungsgericht einreichte. Dieses wies den Fall schlussendlich ans SEM zurück. Dies zeigt, dass die Beschwerde nicht aussichtslos war und die mandatierte Rechtsvertretung das Mandat nicht hätte niederlegen dürfen.
Bei «Jaron» handelt es sich um keinen Einzelfall: Die Bilanz des Bündnisses zeigt, dass die Rechtsvertretung ihr Mandat zu häufig und oft auch zu Unrecht niederlegt. Durch die Auswertung von Statistiken fand das Bündnis heraus, dass die mandatierte Rechtsvertretung in 12.5 Prozent der Fälle eine Beschwerde erhebt. Bei extern vertretenen oder unvertretenen Beschwerdeführenden lag die Quote jedoch bei 14.4 Prozent. Noch deutlicher sind die Zahlen der zu Unrecht niedergelegten Mandate: In 25 von 42 Fällen, die das Bündnis vertreten hat, stufte das Bundesverwaltungsgericht den Fall als «nicht aussichtslos» ein. Daher vermutet das Bündnis, dass die Mandatsniederlegung oftmals hauptsächlich aus Zeitgründen geschieht.
Regionale Unterschiede
Die Niederlegung des Mandats stellt die asylsuchenden Personen vor eine grosse Herausforderung, da sie – wie bereits erwähnt – im beschleunigten Verfahren mit einer äusserst kurzen Beschwerdefrist von sieben Arbeitstagen konfrontiert sind. Dies führt dazu, dass sie innert weniger Tage eine externe Rechtsvertretung finden müssen. Diese muss dann auch noch Zeit haben, um eine Beschwerde zu schreiben. Für Personen in Bundesasylzentren an abgelegenen Standorten ist der Zugang zu einer externen Rechtsvertretung noch schwieriger. Dass eine Beschwerde aber essentiell wichtig sein kann, zeigt der Fall von «Liyah» (Dokumentierter Fall Nr. 368 der SBAA). Nachdem das SEM ihre Wegweisung verfügte, legte ihre Rechtsvertretung das Mandat nieder. «Liyah» reichte danach mit Hilfe einer externen Rechtsberatungsstelle erfolgreich Beschwerde ein. Das Bundesverwaltungsgericht rügte in seinem Urteil das SEM wegen der unvollständigen Sachverhaltsabklärung. Daraufhin wurde «Liyah» als Flüchtling anerkannt.
Die Chancen auf eine Beschwerde durch die offizielle Rechtsvertretung hängen aber auch von der Region ab: Wie das Bündnis feststellte, werden in der Romandie viermal mehr Beschwerden eingereicht als in der Ostschweiz.
Asylsuchende als Leidtragende des neuen Systems
Wie erläutert, stehen bei der Neustrukturierung einerseits die Beschleunigung und andererseits die Reduktion der Beschwerdetätigkeit im Mittelpunkt. Dies ist befremdlich, wenn man bedenkt, dass Asylsuchende meistens rechts- und sprachunkundig und oft traumatisiert sind. Asylsuchende Personen sind also per se verletzbar. Es ist deshalb stossend, dass gerade in einem derart komplexen Sachgebiet eine Neustrukturierung mit dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung angestrebt wurde. Dennoch ist die Beschleunigung für diejenigen asylsuchenden Personen, welche am Ende ihres Verfahrens einen Entscheid mit Bleiberecht erhalten, begrüssenswert. Nichtsdestotrotz kann in einem Rechtsstaat mit einer verfassungsmässig garantierten Rechtsweggarantie eine Reduktion der Beschwerdetätigkeit nicht das Ziel einer Gesetzesrevision sein. Beschwerden werden in einem System, in dem Verfahrensrechte allzu oft verletzt werden, zum wichtigsten Instrument der Behördenkontrolle und der Rechtsausübung. Ohne ein effektives Recht auf Beschwerde wird die Rechtsstaatlichkeit des Asylverfahrens in Frage gestellt.
Die zuvor geäusserten Beobachtungen und Kritikpunkte zeigen, dass sich die Initianten der Neustrukturierung schlicht überschätzt haben. Im Ergebnis geht diese Selbstüberschätzung nun aber zu Lasten der asylsuchenden Personen. Deswegen fordert das Bündnis, dass das SEM zukünftig die Asylgründe genauer und vor allem vollständig abklären und seinen Untersuchungsgrundsatz einhalten soll. Die Asylgesuche müssen sorgfältig(er) triagiert und komplexe Fälle konsequent im erweiterten Verfahren behandelt werden. Um den grossen Zeitdruck der verschiedenen Akteur*innen innerhalb des Asylverfahrens zusätzlich zu vermindern, sollen sämtliche Behandlungs- und Beschwerdefristen verlängert werden. Zu guter Letzt soll die Rechtsvertretung ihre Mandatsniederlegung begründen, damit nachvollzogen werden kann, weswegen eine Beschwerde als aussichtslos angesehen wird. Nur mit diesen Anpassungen kann sichergestellt werden, dass das Asylverfahren rechtsstaatlich korrekt abläuft.
Noémit Weber ist aktiv im Bündnis. Infos: www.bündnis-rechtsarbeit-asyl.ch