Gegen das Vergessen!

sit. 30 Jahre nach dem Auffliegen der Fichen hat eine grosse Mehrheit im Lande keine Ahnung mehr von einem der grössten Skandale der Eidgenossenschaft. Vieles wurde getan, damit alles in Vergessenheit geriet. Und dies hat seinen guten Grund, denn auch heute wird fleissig überwacht.

«Gegen Ende 1976 organisierte die Partei im evan-gelischen Ferienheim Gwatt bei Thun ein Wochenende zum Thema Freiheit und Demokratie», beginnt Franz Waser mit seiner Erzählung der Geschichte, die er ein «Fallbeispiel aus dunklen Zeiten» nennt. «Die Leitung des Ferienheims verlangte eine Liste der Teilnehmer*innen, natürlich nur ‹für den internen Gebrauch›, wie sie betonte, da sie die Übernachtungen sowie die Kurtaxe abrechnen müsse. Das Misstrauen war bei uns da und wir fragten uns: Was tun?» Franz macht eine kurze Pause und sagt dann: «Viele, ich auch, vertraten den Standpunkt: Ich stehe zu meiner Meinung, also kein Problem. Einige trugen sich jedoch wohlweislich mit einem falschen Namen ein. Es vergingen nur wenig Jahre und wir wussten, dass die Liste unverzüglich weiter ging und nicht nur ans Tourismusbüro des Berner Oberlands, sondern auch an die Bundespolizei, die Bupo, in Bern. Diese bediente ebenso unverzüglich ihre Klientel.»

Der «Fall Jordi»
Tatsächlich, 22.Februar 1979: «Nach Teilnahme an PdA-Seminar nicht mehr tragbar», lautet der Titel des Artikels im Tagesanzeiger. Der «Fall Jordi» bricht aus. Medizinstudent und Parteimitglied Christian Jordi wird aus politisch motivierten Gründen nicht am Physiologischen Institut der Universität Zürich angestellt. Grund: «In seinem Dossier bei der Erziehungsdirektion liegt eine Aktennotiz vor, Jordi habe im November 1976 an einem Schulungskurs der Partei der Arbeit in Gwatt bei Thun teilgenommen», schreibt der Tagi. Der Zürcher Kantonspolizei lagen detaillierte Informationen über die Veranstaltungen der PdA vor und denunzierte die Teilnehmer*innen.
Im «Fall Jordi» wird die Erziehungsdirektion informiert, wie der damalige Direktor Alfred Gilgen selbst bestätigt. Die Kantonspolizei will jedoch von nichts wissen und streitet alles ab. «Weder der Direktion noch dem Polizeikommandanten ist bekannt, dass der Erziehungsdirektion Informationen über Christian Jordi zugeleitet worden sind», äussert sich der damalige zuständige Sekretär der Polizeidirektion Ralf Steiger gegenüber dem Tagesanzeiger. Spätestens seit dem Auffliegen des Fichenskandals 1989 wissen wir, dass Steiger gelogen hat. Genosse Christian Jordi verstarb am 6.Mai 2015. Auch in seinem Gedenken schreiben wir diese Zeilen und befassen uns in dieser Jahresendausgabe des vorwärts mit einem der grössten Skandale in der Geschichte der Eidgenossenschaft.

Die geheime Verordnung
Die Wurzeln des Überwachungsstaats reichen in jene Zeit zurück, als die Arbeiter*innenbewegung entstand, was kaum ein Zufall ist. Auch in der Schweiz hängt die Geburtsstunde der Schnüffelpolizei mit der Überwachung der Arbeiterschaft zusammen. Die Bupo und die Bundesanwaltschaft werden in den Jahren 1889 und 1890 ins Leben gerufen, und zwar auf Druck und Erpressung des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck. Er hat Spitzel eingeschleust in die Organisationen der deutschen Arbeiterschaft im Schweizer Exil. Nur mit der Garantie, dass die Schweiz die Überwachung selbst in die Hand nimmt, ist der Reichskanzler bereit, sein eigenes Personal abzuziehen. Nach dem Generalstreik 1918 will das Bürgertum den Staatsschutz massiv ausbauen und lanciert die Lex Häberlin-Initiative. Das Volk lehnt das Polizeistaatsgesetz ab, genauso wie 1934 eine Neuauflage davon. Zwischen 1933 und 1945 befasst sich die Bupo auch mit der faschistischen Gefahr – es ist und bleibt das einzige Mal.
1951, im Kalten Krieg, erlässt der Bundesrat eine geheime Verordnung, welche die Internierung von Staatsfeinden regelt, die auf einer «Schwarzen Liste» stehen. Es sind hauptsächlich die Namen von Kommunist*innen (siehe Seite 10). 1956 kommt es zum ersten Skandal: Bundesanwalt René Dubois lässt als Agent Frankreichs die arabischen Botschaften in Bern überwachen. Die Schweiz steht auf der Seite der Kolonialist*innen so wie sie später auf der Seite der USA im Vietnamkrieg. Die Doppelrolle von Dubois fliegt auf, er erschiesst sich. Es wird nicht der einzige Selbstmord bleiben. Spätestens ab 1968 erfasst die Schnüffelpolizei alles, was fortschrittlich denkt – gross ist die Angst des Bürgertums vor der Aufbruchsgeneration und dessen Marsch durch die Institutionen.

Vom Ausmass völlig überrascht
1976 fliegt dank einer Gruppe linker Aktivist*in-nen die «Akte Cäsar» auf. Der Oberstleutnant der Schweizer Armee und FDP-Politiker Ernst Cincera mit Decknamen «Cäsar» hat zwischen 1972 und 1974 Aufzeichnungen von über 3500 Personen aus der politischen Linken angelegt. Als Präsident der von ihm gegründeten «Informationsgruppe Schweiz» stellt er diese Informationen der Wirtschaft, Verwaltung und Politik zur Verfügung. Doch Cincera geniesst den Schutz von ganz oben, vom Bundestrat und Justizminister Kurt Furgler, der im Grunde nur seine Schnüffelpolizei damit verteidigt. Vier Jahre später leitet Furgler ein Verfahren gegen EMD-Major René Schmid ein, der über Jahre Cincera illegal Material und Informationen geliefert hat. Schmid entzieht sich dem Verfahren durch Selbstmord.
Es vergehen weitere 15 Jahre, bis die Öffentlichkeit die Wahrheit erfährt. Wir schreiben den 28.November 1989 als die Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) ihren Bericht veröffentlicht und darin steht schwarz auf weiss, was viele vermutet und geahnt haben: Die Bupo hat über Jahrzehnte ohne jegliche gesetzliche Grundlage Hunderttausende von Bürger*innen überwacht und registriert. Was jedoch alle völlig erstaunt und überrascht, ist das Ausmass der Überwachung: An der Taubenstrasse 16 in Bern führt die Schnüffelpolizei 900000 Karteikarten (die so genannten Fichen) und die dazu gehörende Dossiers. Ausspioniert und fichiert worden sind vor allem linke Aktivist*innen, Gewerkschafter*innen und ihre Organisationen.

Unwissenheit und Ignoranz
Gross sind Wut und Empörung im Volk. Ein Beweis dafür ist die Demonstration im März 1991 in Bern. Es ist die grösste, welche die Eidgenossenschaft bis dahin erlebt hat. Die Initiative «S.o.S – Schweiz ohne Schnüffelpolizei». wird lanciert. Sie fordert die Abschaffung der Bupo und die nötigen Unterschriften werden gesammelt. Aber Wut und Empörung verpuffen rasch. Der Bundesrat verschleppt die Abstimmung. Sie kommt erst im Juni 1998 vor das Volk. In seinen «Erläuterungen» warnt die Landesregierung vor «schlimmen Folgen» bei einem Ja, wie etwa, dass die Schweiz dann «eine Insel der Unsicherheit und Aktionsgebiet von Terrorgruppen» werden könnte. Keine acht Jahre nach dem grössten Skandal der Eidgenossenschaft wollen gerade mal 25 Prozent der Abstimmenden die Bupo abschaffen, 75 Prozent stimmten ihr zu.
Im Kommentar zur Abstimmungsniederlage ist in der letzten Ausgabe der Zeitschrift «Fichen Fritz», datiert vom Juni 1998, zu lesen: «Nicht nur der Bundesrat und die Bürgerlichen beschieden der Initiative, nicht mehr up-to-date zu sein. Auch ein Teil der Linken sah diesen Abstimmungskampf allenfalls noch als eine Pflichtübung, in die man nicht allzu viel Engagement investieren wollte und nach deren Absolvierung man zu den neuen Themen überzugehen hat.» Und die Schriftstellerin Isolde Schaad schreibt zur massiven Ablehnung: «Der Abstimmungssonntag vom 7.Juni zeigt den höchsten Grad von Unbewusstheit und Ignoranz in unserer Gesellschaft».

Nichts gelernt?
Und heute, 30 Jahre (und keine 300) später? Die grosse Mehrheit im Lande hat keine Ahnung über den Fichenskandal. Die Überwachung geht weiter. Im September 2015 fichiert der Staatsschutz die Ständerätin Anita Fetz wegen ihrer Teilnahme an einer Podiumsdiskussion in Basel, die von der kurdischen Gemeinde organisiert wurde. Die Mittel sind dank der Entwicklung der Technik so effizient wie noch nie zu vor und Schritt um Schritt wurden die gesetzlichen Grundlagen für die Schnüffelei geschaffen.
«Es wurde sehr viel getan, damit die Erinnerung nicht bleibt», sagt Anjuska Weil im Gespräch mit dem vorwärts (siehe Seite 12). Das stimmt und so sind Unbewusstheit und Ignoranz in unserer Gesellschaft weiterhin vorhanden, vielleicht gar im noch grösseren Ausmass als damals, was die Überwachung der Bürger*innen unheimlich erleichtert. Gegen das Vergessen!

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